DEUTSCHER MITTELSTAND VERSCHLÄFT DIE DIGITALE TRANSFORMATION

Der Appell, den BDI-Hauptgeschäftsführer Dieter Schweer an die deutsche Industrie richtet, klingt wie ein Weckruf zur Lage der Nation: “Deutschland darf sich nicht auf Erfolgen der deutschen Industrie ausruhen. Es muss sich auf den digitalen Wandel einstellen.“ (D. Schweer, BDI)Herr Scheer spricht aus, was vielen Spitzenfunktionären und Managern schon länger bewusst ist: Deutschland, der Industriemotor Europas, verschläft den Anschluss an das digitale Zeitalter.

Während US-amerikanische Firmen längst die Potentiale im digital vernetzten Unternehmen (Enterprise 2.0, Web 2.0) und digitaler Wertschöpfung, Produktion und Fertigung auskosten (Industrie 4.0, Big Data etc.), denken deutsche Manager gerade einmal über die Abschaffung von Fax und der Einführung eines schicken Intranets nach. Diese grundsätzliche Skepsis gegenüber digitalen Technologien ist typisch für den deutschen Mittelstand. Zu diesem Schluss  kommt eine von der Commerzbank durchgeführte Studie mit dem programmatischen Titel: „Management im Wandel: Digitaler, effizienter, flexibler!“.

Befragt wurden ca. 4000 deutsche Führungskräfte zum Stand ihrer Pläne und Erfolge in der Digitalisierung mittelständischer Unternehmen. Dabei sind die Rahmenbedingungen für die Mittelständler schlechter denn je, wie einige Auszüge aus der Studie belegen:

  • Nur 40 Prozent aller Mittelständler prognostizieren substantielles Wachstum in den nächsten fünf Jahren

  • 63 Prozent aller Unternehmen sehen in Zukunft als größte Gefahr den Fachkräftemangel,

  • 80 Prozent aller KMUs im Einzelhandel sehen sich einem starken Verdrängungswettbewerb gegenüber,

  • 74 Prozent aller Baugewerbe-Unternehmen haben Produkte, die über ihren Lebenszyklus hinaus sind und deshalb über wenig Innovationskraft verfügen,

  • 66 Prozent der Unternehmen  der verarbeitenden Industrie sind gezwungen, schneller zu innovieren,

  • Nur 26 Prozent aller Firmen der Bauwirtschaft prognostizieren ein Wachstum – ähnlich im Einzel- und Großhandel, wo nur 38 Prozent respektive 48 Prozent noch Wachstum erwarten.


Angesichts dieser Gemengelage wird deutlich, dass es um den deutschen Mittelstand in Zukunft nicht ganz so rosig aussieht. Umso wichtiger ist es angesichts dieser Situation, über eine grundlegende Erneuerung bzw. Innovierung intensiver nachzudenken. Doch dass hierbei Skepsis angesagt ist, spiegelt sich bereits in der Einleitung der Studie wieder. Allein die Wahl des Auftaktzitats, für das sich Markus Beumer, Vorstandsmitglied der Commerzbank entscheidet, spricht Bände. So lässt er Jack Ma, Chef der chinesischen E-Commerce Plattform Alibaba.com, anfangs zu Wort kommen, der verkünden darf, dass Daten das Öl im 21. Jahrhundert seien. Falsch ist daran nichts, aber es gibt angesichts der Studie Rätsel auf, warum Herr Beumer als Cheffinanzierer des Mittelstandes einen chinesischen Vorzeigemilliardär zitiert, anstatt hiesige Vordenker und Innovationsführer zu Wort kommen zu lassen? Lassen wir dies im Raum stehen und schauen auf die Ergebnisse der Befragung.

Zusammenfassend liefert Herr Beumer eine recht pessimistische Einschätzung der Lage, wo der deutsche im digitalen Zeitalter steht:

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  • Deutschland hat heute schon den Anschluss an die digitale Weltwirtschaft verloren. Er lässt keinen Zweifel daran, dass digitale Erfolge nicht aus Berlin, München oder Paderborn kommen, sondern aus dem Silicon Valley und untermauert dies mit der Erkenntnis, dass „Deutschland nicht das Silicon Valley“ sei.

  • Dem deutschen Mittelstand fehlt es an Durchblick und Weitblick, was die digitalen Potenziale angeht. Es falle insofern den Managern nicht leicht „… angesichts der Fülle neuer Produktideen und Dienstleistungen immer auf der Höhe der Zeit zu bleiben…„. Wer genau jedoch den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, verschweigt uns Herr Beumer.

  • Deutschland ist ein digitales Entwicklungsland, digitale Geschäftsmodelle entstehen bei uns nicht über Nacht. Dass digitale Geschäftsmodell auch in anderen Ländern nicht von den Bäumen fallen, sondern das Ergebnis strenger Innovationsmethoden, agiler Gründer und guter Rahmenbedingungen sind, wird nicht weiter thematisiert.

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Lassen wir diese Gedanken auf uns wirken und schauen weiter auf konkrete Fakten.

BACK TO TE FUTURE: DIGITALE TRÄUME DER 1990ER IN DEUTSCHLAND

Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die Ziele des Mittelstandes heute nicht wesentlich von denen von vor 30 Jahren unterscheiden. Nach wie hat der typische Mittelständler das Ziel, im Wettbewerb zu bestehen (68 Prozent), neue Produkte zu entwickeln (66 Prozent) und innovativer zu werden (64 Prozent) – insgesamt sind diese Ergebnisse mit denen aus ähnlichen Studien früherer Jahre vergleichbar. Aber wie reagiert der Mittelstand heute auf diese Ziele? Die vor 20 Jahren entwickelte Antwort der Managementforschung darauf lautete, dass mittelständische Unternehmen vor allem durch Lernen und Kompetenzentwicklung (Organization Design, Organization Learning) schneller, agiler und kompetitiver werden. Diese Ziele aber fehlen damals wie auch heute auf der strategischen Agenda der meisten Unternehmen. Wenig Aufmerksamkeit wird genau jenen Zielen gewidmet, die gerade im Wissenszeitalter über die Marktfähigkeit entscheiden.

Quelle: Commerzbank Studie 2015, „Management im Wandel: Digitaler, effizienter, flexibler!“

Denn, so verrät uns die Studie, möchten mittelständische Unternehmen  in Deutschland anstatt Innovationsmanagement, Wissensvernetzung und Kompetenzentwicklung viel lieber Kosten reduzieren, Produktivität erhöhen und Durchlaufgeschwindigkeiten optimieren – insgesamt alles Themen der neoliberalen Wirtschaftslehre, fern vom Wissens- und Informationszeitalter. Ergo: Der Mittelstand kämpft nach wie vor mit Kosten, Zeiten und Prozessen anstatt mit Ideen und Innovationen. Schaut man auf andere Länder, die Vorreiter in Sachen Digitalisierung sind, so findet man im Zielsystem bereits vielfach Themen, wie eine stärkere Mobilisierung der Workforce, Kundenanalyse durch die Nutzung von BigData, schnellere Vernetzung der Mitarbeiter, dezentrale Erfassung von Kundenströmen, intelligente Sensorik in der Wertschöpfung durch Industrie 4.0 Plattformen usw. Diese Themen fehlen gänzlich auf der deutschen Mittelstands-Agenda.

EISBERG IN SICHT. WIR BLEIBEN AUF KURS

Quelle: Commerzbank Studie 2015, „Management im Wandel: Digitaler, effizienter, flexibler!“

Spannend ist auch die, wie stark der Mittelstand den Einfluss der Digitalisierung auf Schlüsseltechnologien bewertet. Nur 33 Prozent aller Mittelständler sehen durch die Digitalisierung eine Gefahr für ihre Schlüsseltechnologien. Das heißt im Umkehrschluss, dass  70 Prozent aller kleinen und mittelständischen Unternehmen keinen Anlass sehen, ihre technologischen Kernkompetenzen anzupassen und mögliche Potenziale der Digitalisierung zu bewerten und diese gegebenenfalls in das Geschäftsmodell zu integrieren. Angesichts der Vielfalt neuer Chancen, ist dies eine denkbar geringe Quote, denkt man nur an Geschäftsmodelle aus der Nutzung digitaler Kundendaten, neuer 3D Druckverfahren, digitaler Bezahlverfahren, Online-Auktionsplattformen im Einkaufsprozess, Crowd-Innovation, vernetzter Wertschöpfung, digitaler Ökosysteme, Open Source Standards, elektronischem Distanzhandel usw.

Dies führt dazu, dass nur 25 Prozent aller Mittelständler aus der Digitalisierung eine Gefahr für ihr Geschäftsmodell erkennen. Angesichts dieser Traumquote scheint die deutsche Industrie wie unter einem Schutzschild davor gefeit, von neuen digitalen Entwicklungen und Wettbewerbern verschont zu bleiben. Doch kaschiert dieser Zweckoptimismus nicht die Gefahren, die sich aus den neuen Airbnbs, Uebers und Lenovos dieser Welt ergeben. US-amerikanische Unternehmen haben bereits den Gegenwind zu spüren bekommen, den Unternehmen erzeugen, die aus die Regeln der Digitalwirtschaft folgen. Hierzulande ist man jedenfalls (noch) zuversichtlich, und schätzt diese Gefahr sehr gering ein.

DEUTSCHE KUNST DER HOMÖOPATHISCHEN DIGITALISIERUNG

Quelle: Commerzbank Studie 2015, „Management im Wandel: Digitaler, effizienter, flexibler!“

Dass die deutsche Industrie den digitalen Potenzialen echten Zweckoptimismus entgegenstellt, zeigt sich an den Erwartungen, die deutsche Manager an die Digitalisierung haben. Digitale Potenziale werden im Mittelstand vor allem in elektronischen Prozessen und administrativen Strukturen gesehen. Wohlgemerkt: im Jahre 2015. Weit oben sehen mittelständische Führungskräfte vor allem den Einsatz digitaler Technik in der Administration, im Homeoffice-Bereich, der Standortvernetzung oder bei elektronischen Service-Prozessen. Angesichts dieser Ergebnisse scheinen deutsche Mittelständler auch 20 Jahre nach der Verbreitung des Internets noch immer damit beschäftigt zu sein, sich langsam an dieses Medium heranzutasten.

Dass es sich den priorisierten Themen insgesamt um „old-school“ Themen handelt, stört nicht den Einzelnen – stellt aber aus volkswirtschaftlicher Sicht eine echte Gefahr dar. Die Studie zeigt deutlich, dass die Themen mit hohem Innovationspotenzial den Mittelstand momentan nicht interessieren und weit in die Zukunft hinein vertagt werden. Dazu zählen sowohl die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle (Business Model Innovation) als auch der Aufbau neuer digitalisierter Absatzwege (Mobile Commerce, E-Commerce) oder auch die Anwendung von Datenmodellen zur Analyse von Kunden, Preisen, Wettbewerbstrukturen etc. (u.a. Customer Experience, digitale Kundenanalyse) Hier verschließen sich deutsche Manager kategorisch und arbeiten weiterhin in gewohnten Mustern. Ob Stoismus oder Inkompetenz: Es bekräftigt zumal die Einschätzung der Studienmacher, dass der deutsche Mittelstand über wenig Weitblick verfügt. US-amerikanische Firmen machen den deutschen Kollegen schon heute vor, wie Digitalisierung funktioniert: Zum Beispiel arbeitet GE an einer Plattform namens Predix, die einem App-Store gleicht, der innerhalb des Konzerns digitale Tools zur Fertigung und Diagnose bereitstellt, um damit das Wissen der Mitarbeiter noch besser und gezielter in die Optimierung von Prozessen und Produkten einfließen zu lassen.

WIE GEHT ES MIT DEM DIGITALEN MITTELSTAND WEITER?

Dass solche Erfolgsbeispiele digitaler Wirtschaft nicht aus Deutschland kommen, ist bedenklich. Ein Grund dafür, so zeigen es die Studienergebnisse, ist mangelnder Mut und Angst vor zu hoher Komplexität in den Führungsetagen: 52 der deutschen Mittelständler geben an, dass die Komplexität und die Geschwindigkeit der technischen Entwicklung ein Hindernis sind. 

Quelle: Commerzbank Studie 2015, „Management im Wandel: Digitaler, effizienter, flexibler!“

Neben dieser eher psychosozialen Hürde gegenüber der Digitalisierung sind offenbar auch die traditionell hierarchisch organisierten Strukturen im Mittelstand ein Hindernis. Veränderung im Internetzeitalter ist vor allem mit der Auflösung klassischer Hierarchien und Organisationsstrukturen verbunden. Wer innovieren will, kann dies nicht in Organisationen tun, die nach dem Vorbild der Massenproduktion entstanden. Demzufolge geben die wenigsten Mittelständler in der Studie an, dass sie bereit sind, ihre Strukturen zu verändern und den Mitarbeitern kreative Freiräume einräumen. Nur 31 Prozent lassen Kooperationen mit externen Institutionen zu, nur 38 Prozent schaffen Freiräume für die Mitarbeiter zur Entwicklung neuer Ideen und lediglich 46 Prozent holen sich externes Beratungswissen in ihr Unternehmen.Organisatorische Veränderung und digitale Transformation geht anders.

ABER MORGEN FANG ICH AN….

Keine leichte Ausgangsbasis also für den mittelständischen Chef, sein Unternehmen zu erneuern: Verkrustete Strukturen, wenig Risikobereitschaft, wenige Neuerungen und Impulse für strukturelle Gemeinschaftsvorhaben, Aversionen gegenüber neuen Digitaltechnologien, Kleinklein in der Nutzung digitaler Technologien, wenig Weitblick für neue Geschäftspotenziale und eine geschlossene Firmenkultur. Dies sind die Merkmale, die man dem deutschen Mittelstand heute angesichts der anstehenden Selbsterneuerung im Internetzeitalter zuschreiben könnte. Ergo: Der deutsche Mittelstand leidet, was seine Selbsterneuerung betrifft, an einer ausgeprägten Digitalen Prokrastination. So einfach lassen sich die Ergebnisse auf den Punkt bringen. Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Auch die Macher der Studie bleiben hoffnungsvoll und appellieren an den Mittelstand, sich seiner Rolle als Erneuerer zu erinnern. Ob dies der Realität entspricht, bleibt abzuwarten.

Weiterführende Links

Prof. Dr. Kai Reinhardt

Professor für Betriebswirtschaft, Personal und Organisation

https://www.kaireinhardt.de
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